Könnt
ich mich mit
fremden Augen sehen
Interview
in zwei Teilen von Pia Steinbach
Teil I - 6.1.2002
Johannes Welter, Sie haben im Herbst
des vergangenen Jahres zum ersten Mal Ihre virtuhaptischen Portraits
in Ihrer Ausstellung unter dem Titel "Wie ich sie seh" gezeigt.
Diese Bilder haben unter den Besuchern heftige Kontroversen und sehr
interessante und persönliche Gespräche ausgelöst, wie
ich sie nur sehr selten bei derartigen Events erlebt habe. Was ist ein
Portrait für Sie?
Wie der Titel der Ausstellung schon besagt sind meine
Portraits sehr persönliche Sichtweisen auf die dargestellten Personen.
Bei der Rezeption eines Portraits wird oft vergessen, dass es niemals
objektives Zeugnis der dargestellten Person sein kann. Es ist immer
auch Psychogramm der aktuellen Beziehung zwischen dem Maler und dem/der
Portraitierten.
Was heißt "virtuhaptisch"?
Wir haben diesen Begriff geprägt, um meiner spezifischen
Technik und meiner Methode einen Namen zu geben. "Virtuhaptisch" ist
eine Wortschöpfung aus "virtuell" = nach Kraft und Möglichkeit
scheinbar vorhanden, möglich, vorgestellt und "haptisch" =
den Tastsinn betreffend, an-fassbar. Im weiteren Sinn sind damit die
wechselseitigen Einwirkungen vorgestellter und stofflicher Welt gemeint.
Warum arbeiten Sie in diesem Projekt erstmals mit einem Computer?
Zuerst einmal ist er ein zeitgemäßes Werkzeug. Ich wollte die digitale
Bilderzeugung kennenlernen, um herauszufinden, ob und wie ich diese
Technologie in mein Kunstschaffen einbauen könnte. Ich versprach mir
vor allem bei der konzeptionellen Bildentwicklung eine Unterstützung.
Worin besteht diese Unterstützung, die Sie sich von der Zusammenarbeit
mit dem Computer versprochen haben?
Ich kann mir zum einen mit dem vorgegebenem Material einen Malgrund
schaffen (Gemeint sind ein Gesichtsfoto und eine Landschaftsaufnahme,
die beide von dem/der Portraitierten dem Künstler überlassen werden.
Anmerkung von P.S.) Dazu benutze ich die vom Programm vorgegebenen Bearbeitungstools,
um die realistischen Abbildungen in abstrakte Farbkompositionen zu transformieren.
Dadurch, dass ich Bearbeitungsstufen wieder rückgängig machen kann,
habe ich die Möglichkeit, verschiedene Verfremdungstechniken sehr spielerisch
zu testen, um mich langsam meinem Empfinden anzunähern und meinen Vorstellungen
Ausdruck zu verleihen. Ich versuche einen Bildzustand zu erreichen,
der mit seinen Farbformungen und in seiner Struktur eine Charakterisierung
des Portraitierten ermöglicht. Schon die Formatwahl spielt hier eine
wichtige Rolle.
Die
Arbeit am Computer ist höchst interessant. Auf der Suche nach dem bestmöglichen
Ausdruck kann ich in einer größeren Distanz zum Tun verbleiben, als
mir das bei der Handarbeit möglich ist. Das Bild ist ein virtuelles,
ein immaterielles Lichtbild, das auf der Mattscheibe eines Kastens erscheint.
Das ist von besonderer Bedeutung, denn ich habe festgestellt, dass es
immer ein Vorläufiges ist. Es ist noch nicht das wahre, das wirkliche
Bild für mich. Es ist eher etwas nur vage Vorgestelltes, das erst noch
realisiert werden muss. Ein Vorteil gegenüber der traditionellen künstlerischen
Studie besteht sicherlich in der leichten Beeinflussbarkeit, der schnellen
Reaktionsmöglichkeit und der exakten "Erinnerbarkeit" der computerisierten
Bildbearbeitung. Auch die Klonung, die unbegrenzte identische Reproduzierbarkeit
als C-Print, sowie die beliebige Transformation in unterschiedliche
Formate bergen neue konzeptionelle Möglichkeiten. Das Austesten von
Darstellungsmöglichkeiten und deren Angleichung an meine Gefühlsvorbilder
geschieht spielerisch. Am Computer erarbeite ich für das Portrait eine
Grundstruktur, die ich in den nachfolgenden Arbeitsverfahren ausdifferenziere.
Ich möchte gerne noch einmal auf die Formate zurückkommen. In der
Ausstellung hatte jedes Format sein individuelles Maß. Mir fielen neben
den Hochformaten auch einige Querformate auf; das ist ja bei Portraits
eher ungewöhnlich. Auch die Dimensionierung der Portraits war sehr unterschiedlich.
Bei der Ausstellungseröffnung konnte ich teilweise dem Gespräch zweier
Besucher lauschen. Sie standen offensichtlich vor dem Portrait des einen.
Es war ein mittelgroßes Bild. Der andere spekulierte darüber, dass die
Größe des Portraits etwas über die Qualität und die freundschaftliche
Verbundenheit zwischen Künstler und Modell aussagen könnte.
Das ist ja lustig! (lacht) Darauf bin ich noch gar nicht gekommen! Solche
Vergleiche scheinen natürlich nahe zu liegen, aber ich finde sie absurd.
Ein treffendes Beispiel für eine langweilige, materialistische Einstellung.
Die einzelnen Formate sind selbstverständlich individuell auf die Person
abgestimmt. Die Einschätzung darüber findet schon bei der transparenten
Übereinanderlagerung der Fotos statt. Es kann jedoch während des Malprozesses
passieren, - so ist es bei einem guten Freund vorgekommen - dass sich
das ursprüngliche Hochformat in ein Querformat gewandelt hat. Das hatte
mich zunächst sehr verunsichert und den Malprozess für einige Wochen
unterbrochen. Ich musste schließlich dem Bild zugestehen, dass es schlauer
war als ich, weil es mich auf einen bislang verborgenen Aspekt der Beziehung
aufmerksam gemacht hatte.
Sind Ihnen solche Geschehnisse öfter vorgekommen?
Ein anderes Beispiel liefert das Portrait meines Freundes Norbert Werker,
das ich "Babylon-Ramme" nannte. Wenige Wochen später bekam es durch
die Terrorangriffe vom 11. November auf das World-Trade-Center einen
erschreckend aktuellen Bezug. Nur einen Tag später trafen wir uns zu
einem Werkstattgespräch. Den Essay, den Werker im Anschluss daran verfasste,
können Sie schon bald im Internet nachlesen. (lacht) Solche Zufälle
kommen immer wieder vor und ich nehme das gerne als Hinweis auf die
Qualität des Werkes. Ein Portrait ist für mich erst dann gültig, wenn
seine Oberfläche eine eigene Erfindung besitzt und seine Wirkung ein
Geheimnis bewahrt. Es muss lebendig sein und individuell.
Noch eine schöne Geschichte in diesem Zusammenhang? Die Frau meines
Vaters besah sich die Bilder der Ausstellung ohne auf die Namenschildchen
zu schauen. Sie wollte eines aussuchen, dass sie meinem Vater schenken
könnte. Von einem Bild fühlte sie sich besonders angezogen. Als sie
das Schildchen daneben las, stellte sie fest, dass dieses Bild, das
ihr am besten gefallen hatte, das Portrait ihres Mannes ist.
Eine wirklich romantische Geschichte! - Bitte noch einmal zurück
zu den unromantischen Pixeln und Bites. Wie ist das mit den Farben?
Die Farben am Bildschirm sind doch niemals die gleichen wie beim Ausdruck?
Das stimmt, und das hat mich zu Beginn meiner Auseinandersetzung mit
dem Computer auch sehr gestört. Diese Technologie war für mich ja, zumindest
was die Bildbearbeitung betrifft, absolutes Neuland. Und wenn man so
wenig von der Arbeitsweise und vom Aufbau des Computers versteht wie
ich, macht man sich ja allerlei Illusionen über die Fertigkeiten und
Möglichkeiten dieser bildgebenden Technologie. Vor allem an den Schnittstellen,
also zwischen Computer und Drucker sowie zwischen Scanner und Computer
entstehen Ungenauigkeiten in der Farbgebung, mit denen ich nicht gerechnet
hatte. Mit einer High-End-Technologie ließe sich sicherlich einiges
auffangen, aber ich arbeite ja mit einem kleinen Pentium II, also einem
Homecomputer, einem billigen A4-Drucker und einem Scanner. Aber mein
Interesse besteht nicht darin, diesen ganzen Prozess technisch beherrschen
zu wollen, denn dann müsste ich eine professionelle Ausbildung machen
und ein sehr aufwendiges und teures Equipment benutzen. Dafür ist mir
meine Zeit zu wertvoll. Außerdem interessiert mich nicht die professionelle
digitale "Endlösung", sondern eher die Alltäglichkeit des Computereinsatzes,
wie sie mittlerweile von jedem ohne großen Aufwand betrieben werden
kann. Ich will also die digitale Bilderzeugung und -manipulation gar
nicht bis in die Details beherrschen können. Ich will keine perfekte
Simulation, sondern mit den mir zur Verfügung stehenden technischen
Möglichkeiten möchte ich spielen und sie für meine Arbeit sinnvoll nutzen.
Wenn ich also die Tools und Filter, die mir der Photoshop vorgibt, anwende,
so sieht das für einen Profi, wie zum Beispiel für einen am Computer
arbeitenden Werbegrafiker, sicherlich stümperhaft aus. Aber das ist
doch wie im Leben! Also will ich genau mit den Zuständen arbeiten wie
sie mir am Computer passieren: mit den Ungenauigkeiten und mit Vergröberungen
und auch manchmal mit den Unfällen. Das passt mir gut in den Kram, denn
es kommt meiner lange gepflegten Arbeitsweise entgegen, in der der Zufall
und die Abweichungen erst eine lebendige Situation schaffen, die mir
Anlass und willkommene Herausforderung für meine Gestaltungsabsichten
sind. Meine Aufgabe besteht ja darin, den/die Portraitierten in allen
Arbeitsvorgängen immer wieder neu wiederzufinden - zu erfinden.
Warum bearbeiten Sie in der nächsten Arbeitsphase den C-Print mit
solch groben Materialien?
Leben lässt sich in einem maschinellen Druck nicht wiedergeben. Es erscheint
hier geglättet und oberflächlich. Dies entspricht doch gar nicht unserer
konkreten Lebenserfahrung! Ich nutze gerne die vom Drucker aufgebrachten
Farbpigmente. Diese färben die helle Spachtelmasse von unten her ein,
dadurch wird die Farbe sinnlich, sie bekommt eine fühlbare Substanz.
Vielleicht wird sie weggekratzt und es bleiben nur noch dünne Reste
von Farbschlieren über dem nackten Papiergrund. So entstehen Verschiebungen,
Risse, Falten, Wulste, Narben ... . Oder die Oberfläche des Drucks wird
stellenweise aufgelöst, weggeschwemmt und aufgerissen. Das Leben hat
uns ja auch angekratzt und unsere Persönlichkeit zu dem geformt, was
uns schließlich unverwechselbar macht.
Welche Bedeutung haben für Sie die aufgebrachten Materialien? Ich
erkenne eine sandige Spachtelmasse, Binder, natürliche Erden und andere
grobe Materialien, aber auch vereinzelt farbige Übermalungen mit Acryl-
oder Ölfarben. Auffällig in diesem Zusammenhang ist auch die Gestaltung
der Rahmung der mittelgroßen Formate. Sind die Platten, die als Bildträger
der auf Holz aufgezogenen Bilder fungieren, mit Betonmörtel bestrichen?
Wie haben Sie seine subtile Graufarbe erreicht?
Gut gesehen! Allerdings ist die Farbe des Mörtels sein Geheimnis und
nicht meines. Was die Bildrahmung angeht habe ich nach einer Möglichkeit
gesucht, diese geschundenen C-Prints angemessen präsentieren zu können.
Ich wollte sie dem Betrachter quasi nackt entgegenhalten. Eine Glasrahmung,
gar mit Passepartout, kam für mich nicht in Frage, denn dann hätte ich
wieder das Geschönte. Eine Glasscheibe distanziert das Bild von dem
Betrachter, sie macht unberührbar. Ich will aber den sinnlich-materialen
Charakter der Portraits ungeschützt offenlegen. Für mich bilden diese
Materialien zuerst einmal einen Kontrast zur Künstlichkeit des Computerdrucks
auf dem glatten Glossypapier. Mich hat diese Sterilität aufgeregt und
ich fühlte mich zu vehementen, aggressiven und verletzenden Handlungen
provoziert. Ich wollte eine lebendige Körperlichkeit, Erdigkeit, und
auch die Zeit mit ihrer Patina, Verwitterung, usw. in die Portraits
hineinbringen. Nach einigen Experimenten fand ich vor allem solche Materialien
geeignet, die normalerweise nur als Füll- und Hilfsmittel in der traditionellen
Malerei ein Schattendasein fristen. Diese "armen" Materialien reagieren
auf ihre je spezifische Weise mit der dünnen Farbschicht der C-Prints
und erzeugen Strukturen, die in den geleckten Druck das wirkliche Leben
hineinbringen. Materialverwerfungen, Kratzer, Risse, Glanz, indirekte
Einfärbung sind sinnliche Zeichen, die den Portraits die existenzielle
Tiefe geben.
Warum sind Ihre Portraits abstrakt? Ich habe in Gesprächen vor Ihren
Bildern immer wieder herausgehört, dass die Menschen die fotografische
Grundlage, das Abbildhafte der Portraitierten, vergeblich suchen.
Vor mehr als neunzig Jahren wurde das angeblich erste abstrakte Aquarell
von Kandinsky gemalt, und seit dem haben wir in der Kunst abstrakte
Bilder in den unterschiedlichsten Stilen, und die "normalen" Menschen
vertrauen immer noch nicht auf ihr eingeborenes ästhetisches Empfinden!
Viele Menschen halten sich am Abbild oder wenigstens an einzelnen gegenständlichen
Fragmenten fest, so als gäben erst sie eine Legitimation für das Portrait.
In manchen meiner Bilder sind solche realistischen Fragmente noch sichtbar.
Meistens jedoch sind sie so umgedeutet, dass sie ganz in die abstrakte
Komposition eingegangen sind und sich nur noch schwer herauslösen lassen.
Eigentlich sind meine Bilder nicht abstrakt. Sie sind konkreter Ausdruck
von Befindlichkeiten, die sich im Werk in Farbformen materialisiert
haben. Charakter, Gestimmtheit, Widersprüchlichkeit, Verletztheit und
Sehnsucht eines Menschen lassen sich doch nur unzureichend aus einer
Fotografie (eines Laien) herauslesen, zumal sie auch noch vom Portraitierten
selbst ausgewählt wurde. Für mich sind die fotografischen Vorlagen insofern
mir zugefallenes, also eher zufälliges Material, das mir als Ausgangsmaterial
und als Anlass für den Bildentwicklungsprozess dient. Ich muss das realistische
Abbild zerstören, um an die "Seelenbilder" zu gelangen.
Mit meinen Bildern möchte ich dazu auffordern, ein konkretes Farb-Form-Gefüge
als einen Gefühlszustand, als Charakter, als etwas Wesenhaftes wahrzunehmen.
Es schadet nicht, wenn Betrachter meiner Portraits zunächst irritiert
sind. Das sind sie ja nur deshalb, weil sie in dieser Anschauungsweise
ungeübt sind. Einem abstrakten Portrait können sie sich nur mit ihrer
Gefühlserfahrung, ihrem Empfinden annähern. Jedes Gemälde, zumal ein
abstraktes, birgt etwas Unsagbares, und das wollen die meisten Menschen
nicht wahrhaben. Deshalb suchen sie nach Gegenständlichem, das sie benennen
können. Aber es geht doch viel mehr um das Wiedererkennbare im Gefühl,
um eine Seinserfahrung, die man nachempfinden, mitempfinden und zum
Teil auch kommunizieren kann, und die man sicherlich auch mehr beachten
und intensiver miteinander austauschen sollte.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal erwähnen, dass ich im
Moment dabei bin mein Portraitprojekt im Internet zu dokumentieren.
Dort mache ich ein Angebot an alle Interessierten, sich von mir ein
eigenes Portrait anfertigen zu lassen. Allerdings knüpfe ich dieses
kostenlose Angebot an eine Bedingung: Ich erwarte, dass mir die Portraitierten
ihre eigene Reaktion und auch die ihrer Bekannten zukommen lassen. Wir
würden hiermit eine inhaltliche Interaktion herstellen. Ich bin sehr
gespannt, ob das funktionieren wird, denn diese Kommentare, diese Lesarten
würden mir die Möglichkeit geben, meine Intuition und mein Einfühlungsvermögen
zu überprüfen und weiter zu entwickeln. Vielleicht haben diese Reaktionen
dann auch Einfluss auf eine weitere Überarbeitung des Portraits. - Könnten
Sie sich vorstellen dabei mitzumachen?
Sehr gern! Ja, das werde ich tun. - Herr Welter, vielen Dank für
dieses Gespräch. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg mit diesem spannenden
Projekt. Ich werde es mit großer Neugier weiter verfolgen.
© Januar
2002, P.
Steinbach, Kunsthistorikerin
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